Ich wurde in meinem bisherigen Leben schon oft operiert. Mehrere Kreuzbandrisse, Meniskusentfernung, Bandscheibenvorfall, Chiari. Jedes Mal, wenn ich dachte, dass es das ja jetzt endlich mal gewesen sein müsste, kam die nächste Hiobsbotschaft und die nächste Operation. Mittlerweile 9 Mal. Ich war schlank, nahm zu, wurde wieder schlank, nahm wieder zu. Teilweise einfach nur durch den Mangel an Bewegung (weil es eben einfach nicht möglich war: Krücken, Korsett, starke Schmerzen) oder durch Medikamente (gesteigerter Appetit). Mein Körper hat eine ziemliche Achterbahnfahrt hinter sich und es scheint so, als wolle die Fahrt auch niemals enden.
Rückschläge
Vor einigen Tagen war ich mal wieder bei einem Radiologen und durfte zur Kontrolle in das MRT. Ich glaubte nicht daran, dass sich etwas zeigen würde, weil meine Schmerzen ja schon seit einem Jahr nahezu gleichbleibend sind. Aber zu meiner Verwunderung zeigte sich ein rezessiver Bandscheibenvorfall an der bereits operierten Bandscheibe sowie ein generell schlechter Zustand der gesamten Lendenwirbelsäule mit ungewöhnlichen degenerativen Veränderungen der letzten Brustwirbel. Das hat mich einerseits sehr gefreut, weil endlich eine Erklärung für meine Schmerzen sichtbar war. Natürlich habe ich mich gefragt, warum das auf den 3 MRT-Aufnahmen zuvor (jeweils von unterschiedlichen Radiologen) nicht sichtbar war. Aber je länger ich über die Befunde nachdachte, desto mehr machte mir die Entwicklung in den letzten Jahren Angst. Ich bin 33 Jahre alt und habe jetzt schon die Wirbelsäule eines 70-Jährigen.
Die Prognose
Ich weiß, dass mein Leben sich gravierend durch die Syrinx geändert hat. Ich habe auch akzeptiert, dass ich nicht mehr viel machen kann. Als Ingenieur habe ich gelernt, dass man für die Prognose der Zukunft auch die Daten der Vergangenheit zur Rate ziehen muss. Es zeichnen sich dadurch Trends ab, es entstehen ungefähre Richtungen. Zusammen mit den sicheren Daten der Zukunft und der Annahmen erstellt man dann ein mögliches Szenario. Verändert man die Annahmen, ändert sich auch dieses Szenario. Aber die Basisdaten der Vergangenheit ändern sich nicht mehr.
Wenn ich nun die letzten 12 Jahre als Grundlage für eine Prognose der Zukunft nehme, sieht die nicht gerade rosig aus. Meine Wirbelsäule wird auch fortlaufend der Belastung meines eigenen Körpers ausgesetzt sein. Ich soll vielleicht nicht mehr schwer heben, aber komplett vermeiden kann man das auch nicht. Schließlich möchte ich immer noch eine Familie mit Kindern gründen. Ich möchte mein Baby in den Armen halten, meinen kleinen Racker hochheben und für kurze Augenblicke fliegen lassen. Aber je mehr ich an meine Zukunft denke, realisiere ich, dass diese einfachen Wünsche in immer weitere Ferne rücken.
Meine größte Angst
Ich habe keine Angst davor, im Rollstuhl zu sitzen. Ich akzeptiere, dass ich in meinem Leben Fehler gemacht habe und dass ich vielleicht auch jede Menge Pech dabei hatte. Aber ich habe höllische Angst davor, dass ich meiner Freundin, meiner Familie und meinen Freunden nicht mehr gerecht werden kann. Ich habe Angst, dass ich bald außen vor bin, weil ich nicht mehr mit auf ein Weinfest kann, ich nicht lange in gemütlicher Runde still auf einem Stuhl sitzen kann und ich auch nicht mehr mal eben mit dem Rad vorbeikommen kann. Ich habe Angst, dass das Leben an mir vorbei zieht und ich nicht in der Lage bin, eigenständig etwas daran zu ändern.
Ein Abstecher in die Liebe
Es gab eine Zeit, in der ich nicht mehr an die große Liebe geglaubt habe. Ich war nie der große Aufreißer, hatte immer Schwierigkeiten auf Frauen zuzugehen. Ich habe mich eigentlich nur in meinem Job (notgedrungen) selbstbewusst verhalten. Ich kenne meine Freundin schon seit Anfang 2014. Wir haben uns bei der Arbeit kennengelernt und eigentlich immer gut verstanden. Wir hatten auf der Arbeit miteinander zu tun, haben privat ab und zu über WhatsApp geschrieben und uns eigentlich nie gesehen. Auch als ich bei meinem damaligen Arbeitgeber gekündigt hatte, mit einer anderen Frau zusammen war und mich nur noch sporadisch gemeldet habe, riss der Kontakt nicht vollständig ab. Vielleicht war es ein Wink des Schicksals, dass sie mein Leben nie ganz verlassen hat. Ich bin irgendwann aufgrund eines Jobs 170 km weit weg gezogen. Und irgendwann kam der Moment, an dem wir beide nicht mehr vergeben waren. Und wie Liebe manchmal so ist, kommt sie völlig unverhofft und mit voller Wucht auf einen zu. Es fing an mit einer Fernbeziehung. Mittlerweile wohnen wir zusammen und es fühlt sich so an, als wären wir schon Jahrzehnte vereint. Ich glaube an das Schicksal und ich denke, dass es genau das für mich vorgesehen hat.
Meine größte Hoffnung
Meine Freundin stand während meiner Krankheit stets zu mir. Sie akzeptiert, dass ich kein großer Wanderer mehr werde und ihr auch kein Haus mehr bauen kann. Sie liebt mich, weil ich bin wie ich bin. Und meine Krankheit(en) und körperlichen Gebrechen gehören leider zu mir und machen auch einen Teil meines Charakters aus. Ich hoffe, dass sie immer an meiner Seite bleibt. Mit ihr habe ich das Gefühl, dass ich trotzdem alles schaffen kann, was ich mir vornehme. Mit ihr möchte ich alt werden, auf unserer Terrasse sitzen, Bier trinken und unseren Enkeln beim Spielen zusehen.
Und die Moral von der Geschicht‘?
Ich weiß nicht, was die Zukunft bringt. Ich bin kein Hellseher. Vielleicht gibt mein Körper irgendwann weiter nach und ich bin dann wirklich auf einen Rollstuhl angewiesen. Aber ich bleibe mir und meinen Wünschen treu. Ich blicke zurück auf meine Vergangenheit, aber lasse mich nicht davon beeinflussen. Denn den Kopf in den Sand stecken hat noch nie lange geholfen.