Leben lernen

Irgendwann kam bei mir der Moment, wo mein Arzt der Meinung war, dass sich mein Zustand so schnell nicht ändern wird. Ich war wütend und traurig zugleich. Ich wollte und konnte nicht verstehen, wie die moderne Medizin komplett versagen sollte. Ich fragte meinen Arzt mehrfach, welche Optionen ich jetzt noch hätte. Seine Antwort war immer wieder, dass er mir keine Prognose für die Zukunft geben könnte, dass leider ein bleibender Schaden absehbar sei. Und dass ich Rente beantragen sollte. 

Mit 32 sollte also so ziemlich alles, was ich mir beruflich aufgebaut, mühselig erlernt und weit weg von Zuhause ausgeübt habe nun einfach für die Katz gewesen sein. Ich war wirklich zufrieden in meinem Job, hatte tolle Kollegen, habe gutes Geld verdient und hatte auch noch Chancen „weiter“ zu kommen. Es stimmt zwar, dass mir eine Karriere nicht wichtig ist, aber trotzdem war ich auf das alles Stolz. Mir fiel es sehr schwer, mich mit meinem Leben zu beschäftigen und mir einzugestehen, dass es eben nicht mehr geht. Ich wollte einige Wochen einfach nicht mehr ständig an Arzttermine und weitere Behandlungen denken, die am Ende eh nur wieder eine Enttäuschung sind. Ich war für die Menschen in meinem Umfeld vielleicht nicht gerade die beste Gesellschaft, vor allem, weil ich oft einfach nicht erklären konnte was ich gerade getan habe und wieso ich es getan habe. Dabei reagierte ich irrational, was man von mir eigentlich so nicht kennt, da ich eigentlich ein sehr logisch handelnder Mensch bin. 
 
Irgendwann musste ich mich dann aber innerlich damit auseinandersetzen, wie es weiter gehen soll. Ich stellte zunächst meinen Antrag auf Erwerbsminderungsrente, welcher bekanntlich mehrere Monate zur Bearbeitung benötigt und oft einen langen Klageweg nach sich zieht. Kurze Zeit später stellte ich zudem einen Antrag auf Neubewertung meines Grades der Behinderung, da ich mir hier zumindest Erleichterungen in meinem Alltag erhoffe. Leider ist meine Krankheit nicht logisch. Ich kann nicht sagen, dass jede Belastung gleich wirkt. Mal kann ich 1000 Meter weit gehen, mal ist nach 200 schon Schluss. Es gibt Tage, an denen ich morgens aufstehe und mich wie gerädert fühle und Tage, an denen ich Bäume ausreißen könnte. Speziell letztere Tage sind gefährlich, weil ich natürlich keine Bäume ausreißen kann. Manchmal nicht einmal ein Grashalm, ohne dass ein stechender Schmerz durch meinen Körper schießt. Man sagt immer, dass man seine Grenzen kennen muss. Das habe ich früher auch immer gedacht. Ein gesunder Mensch lernt sich auf seinen Körper zu verlassen, kennt seine Grenzen und kann genau beurteilen was passiert, wenn er die Grenze überschreitet. Ich hingegen kenne meine Grenzen nicht, da sie sich jeden Tag verändern. Das Problem dabei ist, dass nirgendwo Warnschilder oder STOP-Zeichen aufgestellt sind. Ich muss erst über die Grenze gehen um zu sehen, ob es zu viel war oder nicht. Das macht es unheimlich schwer und nahezu unmöglich, dem Schmerz aus dem Weg zu gehen.
 
Natürlich muss ich mich bei meiner Erkrankung auch bewegen, da sonst sämtliche Muskulatur verkümmert und ich noch schwächer und unbeweglicher werde als ich es jetzt schon bin. Ich versuche diese Bewegungen in meinen Alltag einzubauen, um neben der reinen Bewegungstherapie auch noch etwas sinnvolles zu machen. Nur dann kann ich am Ende des Tages wenigstens ein kleines bisschen besser gelaunt sein, weil ich dann sehe, dass ich mit meinen Händen etwas geschafft habe. Das Problem dabei ist, dass irgendwann ohne Vorwarnung der Moment kommt, an dem die Schmerzen gewinnen. Dann könnte ich einfach alles stehen und liegen lassen, damit die Schmerzen nicht noch stärker werden. Allerdings bin ich ziemlich stur (meine Freundin und meine Verwandtschaft wird das definitiv bestätigen), weshalb ich oft eine „Sache“ zu Ende bringen will. Das hat dann wieder zur Folge, dass es mir Abends ziemlich schlecht geht. 
 
Ich habe es noch nicht geschafft, den Spagat zwischen „Schmerz“ und „Normalität“ hinzubekommen. Ich arbeite jeden Tag daran, besser erkennen zu können, wann ich was machen kann. Für mich ist es keine Option, nur noch zu liegen und an nichts mehr teilhaben zu können. Ich glaube, dass die Bewegung für mich unerlässlich ist, um meinen Zustand zu erhalten. Auch wenn ich vielleicht nicht mehr joggen werde und auch keine Radtour über 50 km mehr machen kann. Manchmal reicht ein kleiner Spaziergang schon aus, um ein bisschen „Normalität“ in das Leben zurück zu bringen und auch die Menschen in seinem Umfeld das alles etwas vergessen lassen zu können. Dabei ist dann egal, wie schwer mir dieser Spaziergang fällt. Es kommt mir dann nur noch darauf an, dass ich den Menschen, die mir wichtig sind, mein „altes“ Ich zu zeigen und die Scheiße einen Moment vergessen zu lassen. 
 
Ich habe immer gesagt, dass man nie auslernt. Man darf sich nie auf das verlassen, was man gerade jetzt schon weiß, weil man nie genug wissen kann. Das Leben ist dabei einer der Dinge, die man nie voll und ganz verstehen wird. Man wird immer falsche Dinge tun, wird immer irrational handeln und auch oft Fehler machen. Aber genau das ist es, was zu den schönsten Dingen führen kann. Manchmal findet man so sogar die Liebe seines Lebens, wird reich oder hat einfach einen wunderschönen Tag. Ich kann im Moment nicht behaupten, dass ich schon gelernt habe, mit meiner Krankheit zu leben. Aber ich habe auch vorher noch nicht gelernt, mein Leben ohne Fehler zu leben. Ich fühle mich manchmal, als wäre ich ein Kleinkind, was Krabbeln und Laufen lernt und dabei seine Umwelt entdeckt. Einem Kleinkind wird jeder Fehler verziehen, man lässt es diese Erfahrungen machen. Auch wenn dabei mal eine Beule am Kopf heraus kommt. Vielleicht gibt es Menschen, die alles besser wissen. Die schon ihre Erfahrungen gemacht haben. Zwar kann ich diese Menschen fragen, wie es war. Aber die Erfahrung muss ich am Ende selbst machen, auch auf die Gefahr hin, dass ich mir weh tue. Genauso wie ein Kind mehrfach fällt, werde ich auch noch mehrfach fallen. Aber so wie Kinder ihre Eltern zum trösten haben, habe ich die Menschen in meinem Leben. Und ich weiß, dass meine Freundin mich immer auffangen wird, auch wenn ich Idiot noch so oft fallen werde. 

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