Der unterschätzte Pflegeaufwand

Seit November letzten Jahres habe ich den Pflegegrad 2 anerkannt bekommen. Die Spastik hatte daran großen Anteil. Ich kann immer wieder Flaschen nicht öffnen, zittere beim Eingießen oder habe Probleme meine Beine richtig zu bewegen. Wenn man sich mit mir kurz unterhält, merkt man aber eben nicht, dass ich mittlerweile ein Pflegefall bin. Es ist eben wirklich so, wie man sagt: Man guckt den Menschen nur vor den Kopf. 

Keine Veranstaltung ohne Hilfe

Je mehr Stress ich habe, desto schlimmer wird die Spastik. Auch Aufregung gehört dazu. Ich weiß zum Beispiel ganz genau, dass die Spastik sich verschlimmert, sobald ich unter Menschen bin. Dann mache ich mir zu viele Gedanken darum, wie andere mich sehen. Hinzu kommt, dass ich immer mehr Probleme mit meinem Körper kriege, desto länger ich ihn belaste. Dazu zählt das Sitzen im Rollstuhl, aber auch das Verfolgen von Gesprächen. Irgendwann komme ich an den Punkt, an dem ich nicht mehr eigenständig aufstehen kann. Ich kann keinem Gespräch mehr folgen, da die Schmerzen zu stark sind. Ich kann die Treppe nicht mehr alleine hoch oder runter gehen geschweige denn ohne helfende Hand ein paar Schritte vom Auto bis zur Wohnung. Das alles hat dann auch zur Folge, dass ich nur noch sehr ungern alleine ohne Theresa auf irgendwelche Veranstaltungen gehe.

Die Sache mit dem Mitleid

Natürlich kriege ich von vielen Leuten immer irgendwie Hilfe – ob nun beim Öffnen von Getränkeflaschen, dem Überqueren von Hindernissen oder auch beim Ein- und Ausladen vom Rollstuhl. Aber bei sehr vielen Menschen kann ich das Mitleid für meine Situation direkt am Gesicht ablesen und sehe, wie unwohl sie sich dabei fühlen. Da ist es für mich persönlich einfach besser und schöner, die Hilfe durch Theresa zu bekommen, die meine Situation als „normal“ ansieht. Versteht mich aber bitte nicht falsch: Die Menschen dürfen Mitleid haben. Sie dürfen meine Situation bedauern und das auch zum Ausdruck bringen. Aber das heißt nicht, dass das für mich immer wieder aufs Neue angenehm ist. 

Der Unterschied zwischen guten und schlechten Tagen

Es gibt immer wieder Tage oder Phasen, an denen ich mich gut bewegen kann, die Spastik nur leicht ausgeprägt ist und ich wirklich gut klar komme. Dann kann ich auch mal selbst etwas putzen oder aufräumen. An schlechten Tagen wiederum liege ich nur im Bett oder auf dem Sofa, brauche Hilfe beim Anziehen, Essen machen oder beim Waschen. Es gibt auch Phasen, in denen ich so schlecht auf den Beinen zurecht bin, dass ich mich nicht ohne haltende Hand durch die Wohnung bewegen kann. Da wir im 1. OG ohne Fahrstuhl wohnen, ist der Rollstuhl meist unten, da ich in der Wohnung in der Regel ohne auskomme. 

Und Wilma?

Wilma ist im Normalfall meine kleine Physiotherapeutin. Sie braucht Bewegung, muss ihre „Geschäfte“ erledigen und leistet mir außerdem auch noch Gesellschaft. Wenn Theresa arbeiten ist, kümmere ich mich also um sie. Sie weiß, dass sie die Treppen langsam heruntergehen muss, dass wir höchstens 300 Meter weit gehen und sie viel Zeit zum schnüffeln hat. Wir haben uns eben aufeinander eingestellt. An schlechteren Tagen kann ich aber die Treppe kaum gehen. Ich kann mich nur wenige Schritte weit bewegen und schon gar nicht einen Hund an der Leine halten. Zwar gehört soetwas nicht zu einem klassischem Pflegeaufwand, wie er von den Pflegekassen und vom Medizinischen Dienst definiert wird. Trotzdem ist es ein nicht unerheblicher Mehraufwand, der eben dazu kommen kann und der sich auch nicht wegdenken lässt. Schließlich ist der Hund in gewisser Weise Motivation, um mich zu bewegen und um meinen Gesundheitszustand so gut es eben geht zu erhalten. Zum Glück haben wir hier ein großes Umfeld, in dem viele Personen den Gassigang mit Wilma übernehmen können. Ohne dieses Umfeld wäre das Halten eines Hundes für uns nicht möglich. 

Putzen, Putzen, Putzen

Ich zähle es zu meiner Therapie, einige Dinge im Haushalt noch erledigen zu können. Ich kann die normalen Flächen mit dem Staubsauger saugen. Der Triflex hilft dabei, da ich mich nicht nach einem Kabel bücken und auch keinen Staubsauger hinter mir her ziehen muss. Staubputzen ist da schon schwieriger, da die Bewegungen im Oberkörper gegen die Schwerkraft für mich extrem anstrengend sind. Was aber nicht möglich ist: Das Putzen von Kühlschränken und Backofen, intensives Reinigen von Badezimmer und Dusche, Fensterputzen, Balkon reinigen, das Auto aussaugen oder das Wischen der Wohnung. Pflegekassen tun diesen Aufwand immer mit der Tatsache ab, dass dieser Aufwand nicht zu den pflegerischen Maßnahmen gehört. Sie werden zwar in einer Begutachtung aufgeführt, fallen aber bei der Einstufung kaum ins Gewicht. Meiner Meinung nach ist aber gerade die Haushaltsführung ein zutiefst unterschätzter Aufwand, der viele Stunden in der Woche in Anspruch nimmt – oder eben hinten rüber fällt. Aber wer will schon im Dreck leben?

Einkaufen

Bevor ich den Rollstuhl bekommen habe, war es für mich eine riesige Qual, durch einen Supermarkt zu gehen. Ich habe dann meist mit Theresa zusammen eingekauft. Ich konnte mich dann am Einkaufswagen festhalten, aber hatte trotzdem die Belastung des Stehens auf meinen Körper. Nicht selten musste ich dann das Einkaufen abbrechen, den Laden verlassen und Theresa musste den Einkauf zuende machen. Mit Rollstuhl ist das etwas einfacher, da ich im Sitzen weniger Schmerzen habe. Aber Rollstuhlfahrer werden das kennen: Es gibt einfach zu viele Barrieren. Man kommt nicht an alles ran und wenn ich ständig aufstehen muss, habe ich durch den Rollstuhl eigentlich auch nichts gewonnen. Und einen Einkaufswagen mitführen geht auch nicht. Einen Korb am Rollstuhl? Technisch möglich, zahlt aber die Krankenkasse nicht. Schließlich ist das Einkaufen kein Grundbedürfnis – sondern nur das Verzehren der Lebensmittel. Und wenn man dann noch auf dem Land lebt, ist alles noch eine Nummer schlimmer – Gänge sind zu eng, Wege zu schlecht ausgebaut und von barrierefreien Zugängen zu Geschäften brauchen wir gar nicht erst reden. Letztendlich kann ich zwar zum Einkaufen mitfahren – aber ohne Hilfe komm ich doch nicht klar. 

Arzttermine

Ich habe wirklich viele Termine. 4x pro Woche Physio und Ergo, alle 3 Wochen Rezepte beim Hausarzt abholen, alle 4 Wochen zum Psychologen, mindestens einmal im Quartal zum Hausarzt und noch viele weitere Termine beim Urologen, Zahnarzt, Neurologen, Neurochirurgen, Schmerztherapeuten und ungewollte Krankenhausaufenthalte. Kurze Strecken fahre ich noch selbstständig, alles über eine halbe Stunde aber nicht mehr. Durch meine seltene Erkrankung muss ich leider viel zu oft weit weg fahren. Für jede Fahrt brauche ich wieder jemanden, der mich begleitet. Wenn ich wieder neue Medikamente bekomme, sogar für die Kurzstrecken. Und wird der Aufwand als Pflegeaufwand berücksichtigt? Ja, aber nicht mit einer Auswirkung auf die Einstufung. Also eigentlich auch wieder nicht. Richtig gutes System, ne? 

Für deine Mühen: Ein Taschengeld und einen Schlag in die Fresse

Durch die Pflege zuhause erhalte ich Pflegegeld. Nein, Theresa erhält eigentlich das Pflegegeld für ihre Arbeit. Bei Pflegegrad 2 sind das ganze 316 Euro – für einen geschätzten Pflegeaufwand von mind. 30 Stunden pro Woche. Macht einen Stundenlohn von fantastischen 2,47 Euro! WOW! Mal ehrlich: Viel mehr kann einem ein Gesundheitssystem nicht in die Fresse schlagen. 

Fazit

Ich bin mir sicher, dass ich ohne die Hilfe von Theresa und unseren Familien und Feunden aufgeschmissen wäre. Ich würde zumindest verwahrlosen, wahrscheinlich sogar einfach krepieren. Deswegen bin ich dankbar, dass ich dieses Umfeld habe und unser Sozialsystem zumindest eine rudimentäre Pflege durch Pflegedienste & Co. ermöglicht. Aber trotzdem denke ich, dass hier noch viel Luft nach oben ist. „Aber das muss doch alles finanziert werden!“ werden jetzt bestimmt einige denken. Ja, das muss es. Deshalb muss sich in der gesamten Finanzierung dieses Sektors etwas ändern. Auch zum Leidwesen der arbeitenden Bevölkerung. Zu der ich ja irgendwann auch einmal gehört habe.

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